Der Bettler mit dem Schmalzkübelchen
Sagen aus Österreich: Teil 7 Vorarlberg – Die Sage hat sich nahe Bludenz zugetragen.
Dort, wo heute der Gletscher oberhalb von Brand liegt, war einst eine Alm. Es war eine prächtige Alm mit mehreren Sennhütten und mit reichem Ertrag an Milch und Käse und Butter. Bis der Bettler kam.
Der Bettler war nicht jung und nicht alt. Mit einem Kübelchen in einer Hand kam er zur Alm hinaufgestiegen. Er sah nicht wie ein Bettler aus, bis er dann die erste Almhütte betrat. Die drinnen saßen beim Mittagessen um den Tisch. Der Bettler grüßte bescheiden, bat um ein wenig Butterschmalz und hielt sein Kübelchen hin. Dabei sah er plötzlich so arm und hungrig drein, dass das härteste Herz hätte weich werden müssen. Aber die da aßen, gaben ihm keine Antwort. Sie aßen weiter, als wäre er gar nicht da. Wieder grüßte der Bettler bescheiden und ging. Er ging in die nächste Sennhütte, trug seine Bitte um ein wenig Butterschmalz vor und bekam auch nichts. In der dritten Hütte sagte ein Senner zu ihm: „Stör uns nicht beim Essen. Wir geben nichts!“
Unverdrossen ging er weiter, um ein bisschen Butterschmalz zu erbitten. Ob er traurig war oder zornig, sah man ihm nicht an. Dann kam er in eine Almhütte, da hatten die Leute schon gegessen, und die Sennerin wusch die Schüsseln sauber, klapperte mit dem Geschirr und sang. Als sie den Bettler in der Tür stehen sah und seine Bitte hörte, sagte sie zu ihm: „Gib her dein Kübelchen, ich will es dir anfüllen!“, und schickte ihn derweil vor die Hütte, er solle sich dort auf die Bank setzen und warten. Das tat er.
Sie aber wollte sich einen Spaß machen und füllte das Kübelchen mit dem trockenen Kuhmist, der zum Unterzünden beim Herd lag. Obendrauf schmierte sie ein Stück Butterschmalz, grade nur so viel, dass man den Mist darunter nicht sehen konnte. Darauf brachte sie ihm kichernd das Kübelchen hinaus. Der Bettler dankte ihr freundlich und sah sie dabei so traurig an, als hätte er was gemerkt, und ging. Der Sennerin wurde plötzlich ganz anders und sie wollte ihn zurückrufen und die Sache wiedergutmachen. Aber er war schon weg und wie vom Erdboden verschwunden. Da wurde ihr so bang, als hätte sie mit etwas Heiligem ihren Spott getrieben.
Der Bettler machte sich auf den Weg ins Tal. Weiter unten, am Rande der Alm, fand er noch eine Hütte. Darin wohnte ein altes Ehepaar. Es waren Sennen, die schon viele Jahre auf der Alm oben Vieh gehütet hatten. Der Bettler klopfte an, aber diesmal konnte er seine Bitte gar nicht erst vorbringen, denn die beiden Alten empfingen ihn, wie man einen müden, hungrigen Wanderer empfängt. Sie brachten ihm Milch und Butter und Käse. Und weil der Bettler plötzlich so traurig dreinsah, munterten sie ihn mit fröhlichen Reden ein wenig auf und baten ihn, zu erzählen, was ihm denn Schlimmes begegnet war.
Da erzählte er ihnen, was er in den Hütten der anderen Sennen erlebt hatte und dass er wohl gemerkt hätte, was ihm in sein Schmalzkübelchen getan worden war. Darauf nahm die alte Sennerin das Kübelchen und wusch es gründlich aus. Dann schmierte sie ihm das Kübelchen randvoll mit Butterschmalz, und ihr Mann sagte dazu: „Tu ihm doch noch einen schönen Käs dazu.“ Und auch das tat sie.
Als der Bettler satt war, stand er auf, nahm sein Schmalzkübelchen, bedankte sich bei den Alten für die freundliche Aufnahme und ging.
Die zwei alten Leute traten unter die Tür und schauten ihm nach, wie er so hinunterging. Da sahen sie, wie er plötzlich stehen blieb und sich umwandte. Aber er blickte nicht zu ihrer kleinen Hütte zurück, sondern höher, viel höher, bis hinauf zu den grünen Gipfeln des Berges. Dann hob er einen Finger und sprach so laut, dass man es weithin hören konnte:
„Verflucht sollen alle sein, die satt sind und eines hungrigen Bettlers spotten. Verflucht soll die blühende Alm sein und kalt und eisig werden, so eisig kalt wie die Herzen, die dort schlagen. Kein Grashalm soll mehr leben auf dieser Alm, keine Blume soll ihre Wurzeln in die Erde treiben. Ewiges Eis soll den Gipfel des Berges bedecken und von dem Frevel künden, der hier geschehen ist.“ Dann verstummte der Bettler und ging mit seinem Schmalzkübelchen weiter.
Der alte Hirt und die alte Hirtin erschraken und sagten zueinander: „Das war kein Bettler. Der hat geredet wie ein rächender Engel, oder vielleicht war es der liebe Gott selber, der doch heute noch manchmal auf Erden herumgeht und nach dem Rechten sieht. Lass uns miteinander fortgehen, denn dieser Fluch ist schrecklich.“ Sie packten ihre Habseligkeiten zusammen und zogen aus der Hütte fort in das Dorf unten im Tal.
Bald darauf erfüllte sich der Fluch des Bettlers. Die Nacht brach herein und war ganz schwarz und weiter oben tobte es schaurig und kalt, und es schneite und schneite.
So ist der Gletscher oberhalb von Brand entstanden.
„Der Bettler mit dem Schmalzkübelchen“ ist eine Sage aus dem Buch „Sagen aus Vorarlberg“
von Friedl Hofbauer, 80 Seiten, G&G Verlag; ISBN-13: 978-3-7074-0678-8