Dr. Medicus Historicus: Polio

Die Coronapandemie ist für die meisten Menschen die erste Pandemie, die sie selbst ­hautnah miterleben, doch es ist nicht die erste der Weltgeschichte. Pandemien und weit verbreitete Krankheiten, an denen Millionen von Menschen erkrankten und auch sehr viele verstarben, tauchten in den letzten Jahrhunderten regelmäßig auf. Durch den medizinischen Fortschritt wie Impfungen, die Entwicklung von Antibiotika und vieles mehr konnte den meisten dieser Erkrankungen der Schrecken genommen werden. Einige sind komplett von der Bildfläche verschwunden, andere kommen nur noch in weit geringerem Ausmaß vor und lassen sich heutzutage gut behandeln. Im Jahr 2022 möchten wir Ihnen in jeder Ausgabe eine Erkrankung vorstellen, die in den letzten Jahrhunderten zahlreiche Menschenleben forderte und die Medizinerinnen und Mediziner vor gewaltige Herausforderungen stellte. Unser fiktiver Mediziner Dr. Medicus Historicus nimmt Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit und beleuchtet wichtige Ereignisse der Medizingeschichte.

Polio (Kinderlähmung)

Noch vor 100 Jahren war die Angst vor dieser schweren Erkrankung omnipräsent, denn ein wirksames Medikament existierte nicht. Dieses gibt es zwar bis heute nicht, allerdings konnte eine Impfung die Krankheitsfälle innerhalb kurzer Zeit radikal senken und schlussendlich in den meisten Ländern der Welt Polio ausrotten. Komplett gebannt ist die Gefahr allerdings nach wie vor nicht.

Schwarz-weiß-Bild eines verrosteten Wasserhahns
Häufig ist verschmutztes Trinkwasser eine Infektionsquelle. Die Inkubationszeit beträgt in etwa 7 bis 15 Tage.

Wir befinden uns inmitten des 18. Jahrhunderts. Jahr für Jahr erkranken Millionen von Menschen an der „Kinderlähmung“, wie dieses Leiden umgangssprachlich genannt wird. Der Name ruht daher, dass sich vor allem junge Kinder (überwiegend zwischen drei und acht Jahren) anstecken. Die Krankheit wird durch den Poliovirus verursacht, der hauptsächlich durch Schmierinfektion übertragen wird (zum Beispiel mit Fäkalien oder verunreinigtem Wasser). Viele Kinder gehen am Abend noch völlig gesund zu Bett und wachen am darauffolgenden Tag mit Lähmungserscheinungen auf – als ob über Nacht ein böser Geist die wehrlosen kleinen Geschöpfe heimgesucht hätte. Die Mediziner sind ratlos und müssen hilflos zusehen, wie Kinder, die am Tag zuvor noch laufen konnten, sich nun mithilfe von Krücken nur ein paar Meter bewegen können. Gelenkschäden, Skoliose der Wirbelsäule und Fußdeformitäten sind zu beklagen. Zwar verlaufen viele Fälle von Polio auch glimpflich, doch einige enden sogar tödlich, insbesondere wenn der Virus das Atem- und Kreislaufzentrum angreift. Die einzige Chance zum Überleben bot damals die Eiserne Lunge.

Die Eiserne Lunge als Symbolbild für Polio

Ein Bub liegt in der Eisernen Lunge im Naval Krankenhaus im Jahr 1960. Schwarz-weiß Foto. Polio
Die Eiserne Lunge war eines der ersten klinischen Geräte, das eine maschinelle Beatmung eines Menschen ermöglichte. Um 1920 entwickelte sie der US-amerikanische Ingenieur Philip Drinker zur Beatmung lungenkranker Patientinnen und Patienten.

Die Eiserne Lunge war eine Druckkammer, welche die Atmung der Betroffenen übernahm. Die erkrankte Person steckte bis zu Hals in der Stahlröhre fest. Mit abwechselndem Über- und Unterdruck wurde die Lungenfunktion aufrechterhalten. Verlassen durften die Patientinnen und Patienten diese Apparatur nur für wenige Minuten bis Stunden am Tag. Manche Menschen verbrachten den Großteil ihres Lebens in einer dieser Druckkammern. Zu sicherlich nicht selbst angestrebtem Ruhm gelangte dabei die unermüdliche Australierin June Middleton (* 1926). Die Eiserne Lunge hielt sie seit einer Polio-Erkrankung im Jahr 1949 am Leben. Über 60 Jahre hinweg musste sie 21 Stunden am Tag in der Röhre liegen. Im Oktober 2009 verstarb Middleton im Alter von 83 Jahren. Sie ist im Guinness-Buch der Rekorde verewigt als jene Patientin, die länger als alle anderen in einer Eisernen Lunge verbracht hatte. Die Eiserne Lunge konnte das Leben zwar oftmals verlängern, doch das einzige wahre Heilmittel gegen Polio bestand in der Impfung.

Die Impfung änderte alles

Kind wird von Arzt gegen Polio geimpft. Schwarz-weiß-Foto
Es gibt keine spezifische Therapie mit antiviralen Stoffen. Nur die Impfung hilft!

Nach langer Forschung und groß angelegten Studien konnte der Polioimpfstoff in den 1950er-Jahren endlich an viele Teile der Weltbevölkerung geliefert werden. Bis die Impfmöglichkeit auch den ärmeren Ländern der Welt zur Verfügung stand, vergingen allerdings noch etliche Jahre, in denen zahlreiche weitere Kinder an Polio erkrankten und die Folgen zum Teil bis heute am eigenen Leib ertragen müssen. Infolge der Durchführung von Impfmaßnahmen seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) konnte das Vorkommen von Polioviren in den darauffolgenden Jahrzehnten glücklicherweise beträchtlich reduziert werden. In Österreich wurden zuletzt im Jahr 1980 Polio-Wildviren festgestellt. Die Impfung erfolgt meist im Rahmen der 6-fach-Impfung für Säuglinge und Kleinkinder. Weltweit wurden in den letzten Jahren nur noch vereinzelte Fälle von Kinderlähmung registriert: Vor allem in Pakistan und Afghanistan, aber auch in Malawi, Mosambik und der Ukraine wurden Fälle gemeldet. Da es bis zum heutigen Tag keine wirksame Behandlungsmethode gegen eine akute Kinderlähmung gibt, ist die Impfung weiterhin der zentrale Faktor, damit diese Krankheit sich nicht nochmals über den gesamten Planeten ausbreitet und Kinder um eine gesunde Zukunft bringt.

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