Pflegekraft Herr Steinbock
Einst waren beinahe alle Teile des Steinbocks als Heilmittel derart heiß begehrt, dass es sogar eigene „Steinbock-Apotheken“ gab. Gegen Anfang des 19. Jahrhunderts war der Alpensteinbock bis auf einen letzten Bestand von etwa 100 Tieren im italienischen Gran Paradiso ausgerottet.
Steinböcke gehören zu den besten und geduldigsten Kletterern der Tierwelt. Während andere Tiere im Winter in niedrigere und wärmere Gegenden ziehen, klettert der Steinbock selbst unter widrigsten Bedingungen seelenruhig von Stein zu Stein in immer luftigere Höhen. Der Grund, weshalb der Steinbock trotz seiner unglaublichen Robustheit beinahe ausgestorben wäre, war – wie so oft – der Mensch. Steinböcke wurden nicht nur wegen ihres Fleisches gejagt; der komplette Körper war begehrt, und kaum ein anderes Wildtier wurde in der Volksmedizin so umfassend genutzt: Das Blut wurde frisch oder getrocknet bei Schwäche, Blutarmut und Ohnmacht verabreicht, während man der Milz Kräfte gegen Gelbsucht und Leberkrankheiten zuschrieb. Das Knochenmark wurde zur Stärkung bei Auszehrung und Gelenkbeschwerden eingesetzt. Sogar das sogenannte „Herzkreuz“, ein verhärteter Knorpel aus den Herzklappen, wurde aus dem Körper gewonnen und mit fast magischen Eigenschaften versehen – die Menschen glaubten, es verleihe Mut, schütze vor Verwundungen und halte das Herz gesund.
Die Bezoarkugeln galten als Wundermittel
Besonders kostbar aber waren die Bezoarkugeln, die sich im Verdauungstrakt bildeten. Diese unscheinbaren Steinwürfelchen galten als wahre Juwelen, da man ihnen ein nahezu unerschöpfliches Spektrum an Heilkräften zuschrieb. Rund vierzig Wirkungen sind überliefert: Sie sollten die Lebensgeister stärken, die Geburt erleichtern, Ungeziefer fernhalten, den Harn treiben und zugleich ein wirksames Mittel gegen Pest, Gift, Gelbsucht, Kopfschmerzen, Ohnmacht und Melancholie darstellen.
Pulverisiertes Steinbockhorn auf dem Butterbrot
In der Volksmedizin galt pulverisiertes Steinbockhorn als besonders wirksames Mittel gegen Vergiftungen. Es wurde nicht nur in kleinen Dosen eingenommen, sondern sogar im Alltag verwendet: Man streute das feine Pulver auf ein Stück Brot und aß es wie eine Art Schutzmahlzeit. So sollte die Heilkraft in den Körper übergehen und ihn dauerhaft gegen Gift, Krankheiten und Schwäche wappnen. Selbst Haut und Haare des Steinbocks fanden Eingang in diverse medizinische Praktiken: Aus den Haaren flocht man Schutzamulette oder man verbrannte sie, um den als heilsam geltenden Rauch einzuatmen. Die Haut wurde getrocknet, in kleine Stücke zerschnitten und als Verbandsmaterial verwendet; alternativ konnte sie zu Pulver zermahlen und Wundumschlägen beigemischt werden.
Das Fett des Steinbocks
Auch das Fett des Steinbocks wurde nicht verschmäht. Der ausgelassene Talg hatte eine kompakte, zugleich angenehm cremige Konsistenz und wurde direkt als Hautpflegemittel verwendet. Um seine Verderblichkeit zu verhindern, wurde es in kleinen Ton- oder Holzgefäßen kühl und dunkel gelagert. So stand es über Monate hinweg zur Verfügung, sei es zum Einreiben rauer Hände, als Schutz gegen Erfrierungen oder als Grundlage für einfache Salben, die mit Kräutern vermischt wurden. In vielen alpinen Regionen diente diese „medizinische Schatzkammer“ nicht zuletzt als moralische Rechtfertigung für die intensive Bejagung des Tieres. Erst mit dem Einsetzen moderner Naturschutzbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert konnte der dramatische Schwund der Bestände gestoppt werden. Glücklicherweise muss im Jahr 2025 keines dieser prächtigen Tiere mehr für medizinische Zwecke sterben, sodass Herr und Frau Steinbock ungestört von einem Berggipfel zum nächsten klettern können.
Steckbrief
Körperlänge: Weibchen 80–115 cm,
Männchen 150–170 cm
Gewicht: Weibchen 40–50 kg, Männchen 90–110 kg
Lebenserwartung: 10–14 Jahre
Verbreitung: Alpen
Lebensraum: Gebirge
Artbestand: ca. 40.000 Tiere
Bild: Apovital/KI